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von Dr. Marc Pohlkamp, Andreas Rolf und Wolfgang Schräder
Am 3. Dezember 1984 ereignete sich im indischen Bhopal eine der größten Katastrophen in der Geschichte der industriellen Chemie. Im Werk der Union Carbide of India Limited, einer Tochtergesellschaft der Union Carbide Corporation, explodierte ein Tank und setzte rund 40 Tonnen Methylisocyanat (MIC) in die Atmosphäre frei. MIC ist eine leichtflüchtige, sehr reaktive Flüssigkeit, die schon in geringen Konzentrationen Haut- und Schleimhautverätzungen, Augenschädigungen und Lungenödeme hervorrufen kann. Die freigesetzte Giftgaswolke trieb dicht über dem Boden auf ein Wohngebiet zu. Zwischen 2.000 und 10.000 Menschen starben, mehrere Hunderttausend wurden verletzt. Im folgenden werden die Risikosituation vor dem Unglück, die eingeleiteten Maßnahmen des Konzerns zur Schadensbegrenzung sowie zur Wiedergutmachung dargestellt und kritisch analysiert.
Die Union Carbide Corporation zählte 1984 mit einem Umsatz von 9,5 Milliarden US-Dollar zu einem der größten Chemiekonzerne der Welt. Wichtigste Produktsegmente waren zum damalige Zeitpunkt petrochemische Erzeugnisse (28 Prozent des Gesamtumsatzes), Pestizide (26 Prozent), Konsumgüter - wie Autobatterien und Plastikfolien - (20 Prozent), Industriegase (16 Prozent) und Metalle (10 Prozent). Der Konzern profitierte in jener Zeit von einer Erholung der US-amerikanischen Wirtschaft und hatte 1984 ein finanziell erfolgreiches Geschäftsjahr.
Mit 200 Millionen US-Dollar fiel der Umsatz der Union Carbide of India Limited recht bescheiden aus. Das Unternehmen betrieb zum damaligen Zeitpunkt insgesamt 14 Werke auf dem Subkontinent. Die Investitionen der Union Carbide Corporation in Ländern wie Indien erfolgten seit den vierziger Jahren vor allem in der Hoffnung, am Wachstum der nationalen Volkswirtschaften teilzuhaben. Auch die indische Regierung war ihrerseits seit Jahrzehnten bemüht, westliche Investoren ins Land zu holen und gemeinsam mit diesen eine leistungsfähige Industrie aufzubauen. Die Produktion von Pestiziden besaß dabei hohe Priorität. Hierdurch sollte die Landwirtschaft leistungsfähiger gemacht und eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden. Ausdruck dieser Politik war die 24prozentige Beteiligung von regierungseigenen Unternehmen an der Union Carbide of India Limited. Der Mutterkonzern Union Carbide Corporation hielt 51 Prozent der Anteile.
Im Werk Bhopal der Union Carbide of India Limited wurden seit 1969 Sevin und weitere sogenannte "Carbamatpestizide" produziert. Hierfür diente das MIC als Ausgangsstoff. Dieses wurde zunächst von einer anderen Tochtergesellschaft im Union Carbide Konzern aus den USA importiert. Seit 1979 war im Werk in Bhopal eine eigene Anlage zur Herstellung von MIC vorhanden. Insgesamt stellte Union Carbide im Werk Bhopal pro Jahr etwa 2500 Tonnen Pestizide her. Diese waren hauptsächlich für den indischen Markt bestimmt.
Ausgangspunkt für die Katastrophe am 3. Dezember 1984 war ein MIC-Vorratsbehälter, der sogenannte Tank 610. Dieser befand sich - zusammen mit zwei weiteren Vorratsbehältern (Tank 611 und 612) - in einem separaten Bereich der Produktionsanlage. Während jeweils zwei Tanks zur Zwischenlagerung des MIC verwendet wurden, diente der verbleibende dritte Tank für Notfälle und nicht spezifikationsgerechte Chargen. Der Transfer des MIC zur Weiterverarbeitung erfolgte durch einen Stickstoffüberdruck von zwei bar, mit dem der Vorratsbehälter "beaufschlagt" wurde. Das für die Produktion des Pestizids Sevin verwendete MIC wurde vor dem Unglück in Chargen zu je einer Tonne aus dem Tank 611 in den Sevin-Produktionsprozess überführt. Tank 610 stand dagegen bereits seit sechs Wochen vor dem Unglück unter Normaldruck, da es zu Problemen mit der Druckbeaufschlagung gekommen war.
In der Nacht zum 3. Dezember 1984 nahmen einigen Mitarbeiter einen leichten MIC-Geruch wahr und versuchten das Leck zu finden. Während dieser Suche waren die Schichtleiter aller Betriebe in einer Teepause und für die Mitarbeiter nicht ansprechbar. Im Verlauf der Suche stiegen Temperatur und Druck im Tank 610 soweit an, daß das Sicherheitsventil ansprach und 24 Tonnen MIC sowie 12 Tonnen weitere Reaktionsprodukte in die Umwelt gelangten - mit den bekannten verheerenden Folgen.
Das Ausmaß der Chemiekatastrophe von Bhopal war verheerend. Es stellt sich daher die Frage, ob im Vorfeld des Unglücks möglicherweise Anzeichen für eine kommende Katastrophe ersichtlich waren und welche Maßnahmen Union Carbide zu deren Verhinderung getroffen hat. Im folgenden werden die extern ersichtlichen unternehmerischen Risiken näher analysiert:
Zusätzlich erfolgte im Vorfeld des Unglücks keine umfassende Information der Bevölkerung über die Risiken der Produktionsanlage. Der größte Teil der Bevölkerung glaubte an die Produktion von "Pflanzenmedizin" und wußte nichts über das Gefährdungspotential der Pestizide. Selbst offizielle Stellen hatten keine Informationen über das richtige Verhalten im Gefahrenfall. Hieraus resultierte nach der Freisetzung der Giftgaswolke beispielsweise die Aufforderung offizieller Stellen an die Bevölkerung, den Gefahrenbereich schnell zu verlassen. Dieses verursachte wahrscheinlich zusätzliche Opfer, da das MIC und dessen Reaktionsprodukte durch die körperliche Anstrengung verstärkt inhaliert wurden. Als richtige und wirksame Maßnahme hätten sich die betroffenen Menschen mit einem feuchten Tuch vor dem Mund- und Nasenbereich flach auf den Boden legen sollen. Allein diese Maßnahme hätte vermutlich vielen Menschen das Leben retten können.
Von Union Carbide wurden die folgenden Maßnahmen zur Schadensbegrenzung nach dem Unglücksfall eingeleitet:
Zeit | Ereignis | Maßnahmen |
Schadenseintritt (0.15 Uhr Ortszeit in Bhopal) | Druckanstieg im Lagertank 610 | Das Abpumpen des eingetretenen Wassers scheitert. |
innerhalb der ersten sechs Stunden (6.15 Uhr Ortszeit in Bhopal) | Ausbreitung der giftigen Gaswolke | Keine |
nach 12 Stunden (2.15 Uhr Ortszeit in den USA) | Unfallmeldung erreicht die Unternehmensleitung | Keine |
nach 14,5 Stunden (4.45 Uhr Ortszeit in den USA) | Erste Presseanfragen bei der Union Carbide Corporation | Keine |
nach 16 Stunden (6.15 Uhr Ortszeit in den USA) | Die Unternehmensleitung befaßt sich mit dem Unfall. | Einschaltung des Krisenmanagers einer PR-Agentur |
nach 25 Stunden | Erste Pressekonferenz | |
innerhalb des ersten Tages | Der Vorstandsvorsitzende der Union Carbide fliegt nach Bhopal und wird für eine Woche inhaftiert. | |
innerhalb der ersten Woche | Entsendung von Atemwegspezialisten nach Bhopal. |
Der dargestellte Zeitablauf läßt deutliche Defizite in der Schadensbegrenzung direkt nach dem Unfall erkennen:
Das Unglück im Werk Bhopal der Union Carbide India Limited verursachte auch bei der Muttergesellschaft in den USA erhebliche Probleme. Als Hauptanteilseigner wurde die US-amerikanische Union Carbide Corporation für alle Folgen des Unglücks verantwortlich gemacht. Zahlreiche Versuche zur Wiederherstellung des Vertrauens innerhalb der indischen Belegschaft und in der Bevölkerung scheiterten jedoch. Ursächlich hierfür könnte einerseits die hohe Anzahl von Todesopfern und andererseits die unzureichende Informationspolitik des Unternehmens vor und nach dem Unglück gewesen sein. Die folgende Tabelle stellt einige Maßnahmen der Union Carbide Corporation zur Wiedergutmachung nach dem Unglücksfall dar:
Zeit | Ereignis | Maßnahmen |
innerhalb des ersten Tages | Unglück von Bhopal | zwei Millionen US-Dollar für Soforthilfemaßnahmen |
innerhalb der ersten Woche | Mögliche Sicherheitsmängel in einem MIC-Werk in den USA werden bekannt. | Vorübergehende Schließung des Werkes; Versuch zur Ermittlung der Unfallursachen; Fortführung des Restrukturierungsprogrammes |
nach fünf Monaten | Zahlreiche Einzelklagen werden eingereicht. | fünf Millionen US-Dollar für zusätzliche Hilfsmittel |
nach zwei Jahren | Übernahmeversuch durch einen Wettbewerber | Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden |
nach vier Jahren | Verurteilung von einem indischen Gericht | 470 Millionen US-Dollar Schadensersatzzahlung; Abschluss der Restrukturierung |
nach zehn Jahren | Baubeginn für ein Krankenhaus in Bhopal | |
nach 15 Jahren | Anklage vor einem US-Gericht nach dem "Alien Tort Claims Act" | |
nach 15 Jahren | Merger mit DOW Chemical |
Die beiden letzten Ereignisse zeigen, daß das Unglück von Bhopal auch mehr als 15 Jahre nach dem Ereignis die Unternehmensentwicklung nachhaltig beeinflußt hat. So kann beispielsweise der noch offene Ausgang der Klage vor einem US-amerikanischen Gericht weitere Schadensersatzzahlungen zur Folge haben. Die Fusion mit DOW Chemical macht zudem deutlich, wie eines der ehemals größten Industrieunternehmen der Welt durch einen vergleichsweise schlecht bewältigten Unglücksfall zu einem Übernahmekandidat wurde.
Insgesamt waren aus heutiger Sicht die Maßnahmen der Union Carbide Corporation zur Wiedergutmachung im Anschluß an das Unglück nicht erfolgreich. Das Unternehmen konnte seine ursprüngliche Marktposition nicht wiedererlangen.
Dr. Marc Pohlkamp
RealTech AG
Industriestraße 39c
D-69190 Walldorf
E-Mail: marc.pohlkamp@gmx.de
Andreas Rolf
Fachhochschule Münster
Fachbereich Chemieingenieurwesen
Labor für Chemische Verfahrenstechnik
Stegerwaldstraße 39
D-48565 Steinfurt
Telefon: +49 (0)25 51 / 96 - 23 98
Telefax: +49 (0)25 51 / 96 - 27 11
Internet: www.fh-muenster.de/FB1
E-Mail: A.Rolf@web.de
Wolfgang Schräder
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Anorganisch-Chemisches Institut
Wilhelm-Klemm-Straße 8
D-48149 Münster
Telefon: +49 (0)251 / 83 - 33119
Telefax: +49 (0)251 / 83 - 33169
Internet: www.uni-muenster.de/Chemie/AC/anders
E-Mail: wolfsch@uni-muenster.de
Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
4. Jahrgang (2001), Ausgabe 7 (Juli)
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Letzte Aktualisierung: Montag, 4. November 2024
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